Prof. Dr. Carsten Sinner
Universität Leipzig
Institut für Angewandte Linguistik und Translatologie
Iberoromanische Sprach- und Übersetzungswissenschaft
Beethovenstr. 15
04107 Leipzig
Tel. 0049-341-9737602

http://www.carstensinner.de e-mail

 

 

Texte

Rechtschreibung: Vom Häkchenwesfall und anderen bitteren Tropfen

21. 9. 1997

Deutschland ist gespalten in Befürworter und Gegner der Rechtschreibreform, die sich darüber streiten, wie sinnvoll die neue Orthographie ist. Behende oder behände, daß oder dass, immer gibt es gute Gründe, die für oder gegen die Reform sprechen. Ein häufig genanntes Argument für die Änderung ist, die neue Orthographie berücksichtige bestehende Tendenzen, so beispielsweise im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung. Die neue Orthographie greift tatsächlich in fast allen Bereichen regulierend ein. Lediglich ein kleines, ja winziges Detail ist den Reformern entgangen; eine deutliche Tendenz blieb unberücksichtigt und ist auch in den Medien bisher nur ausnahmsweise zur Sprache gekommen. Die Rede ist vom Gebrauch des Apostrophs, der deutschen Schreiber liebstes Spielzeug. Erinnern wir uns: Apostroph, gr.-lat., eigentlich abgewandt, abfallend: Auslassungszeichen, Häkchen, das den Ausfall eines Lauts oder einer Silbe kennzeichnet, so der Duden. Um ein Auslassungszeichen handelt es sich, und entsprechend haben wir in der Schule gelernt, daß es Susannes Suppe heißt, aber Max' Mütze und Fritz' frischer Fisch, wobei es der eine oder andere sogar vorzieht, die Mütze von Max oder der frische Fisch von Fritz zu sagen (und zu schreiben), oder schlimmer noch, dem Max seine Mütze und dem Fritz seine frischen Fische. Daß man früher auch Maxens Mütze und Fritzens Fische sagte – und schrieb – ist vielleicht sogar noch aus dem Deutschunterricht in Erinnerung. Wenn es uns gut geht, dann geht's uns auch gut, und wir setzen Apostroph, wo wir das e ausgelassen haben. Eine leichte Übung also? Kleine Unstimmigkeiten gab es beim Gebrauch des Apostrophs schon lange, die Tendenz war eindeutig. Herein wurde zu 'rein, die Silbe fiel, aber kaum einer schrieb das tatsächlich so: rein, und auch raus, und rüber und runter. Darum heißt es dann auch mittlerweile, daß Apostroph hier kein Muß mehr ist. Dafür hat man das Beispiel geändert, 'nauf und 'nunter, als ob jemals jemand ... Egal. Und wo man früher sagte, man würd' kommen, da würd man jetzt, wenn man denn nicht anders kann. Das ist doch alles nicht so dramatisch.

         Ein kleiner Spaziergang durch Berlin zeigt die Realität der deutschen Orthographie. Frank's Billardsalon und Berlin's größtes Sportstudio - keine Erklärungsnot: Der Englischunterricht ist schuld, erklärt mir die befreundete Lehrerin. Genauer gesagt, der sächsische Genitiv, den die Engländer so konsequent mit Apostroph verschönern, in Ken's car und Barbara's book beispielsweise. Wer bei Kaiser's Supermarkt einkaufen geht und sich den neuen Duden bei Wohlthat's Wohlfeile Bücher holt, der wundert sich aber sowieso nicht, und fast hätt' oder hätt ich vergessen, daß man das jetzt ja darf, um die Grundform eines Namens zu verdeutlichen, was immer das heißt. Frank wird mir durch das Häkchen zwar keinen Deut deutlicher, aber ich will nicht klagen über das, was jetzt im Duden steht. Gewöhnungssache, wie so manches, und sogar Spiegel-TV beschert uns mit Hendrik's oder Sandro's Mutter eingeblendete Glücksmomente. So deutlich war Sandros Mutter sicher noch nie, dem Häkchenwesfall – wie ihn Wustmann unglaublicherweise genannt haben soll – sei Dank.

         Was aber mache ich mit all den anderen schönen Häkchen, an denen ich tagtäglich hängenbleibe? Eher Haken sind es, die den Weg durch den städtischen Buchstabenwald zum Spießrutenlauf machen, und es ist nicht zu übersehen, daß es keine verschwindende Minderheit ist, die andere Vorstellungen von deutscher Orthographie hat als die Autoren der Rechtschreibreform, die Kritiker derselben und auch ich. Eben jene überwältigende Masse von braven Verwendern unserer Schrift, die das Auslassungszeichen auch dort nicht missen mögen, wo sie nichts ausgelassen haben.

         Wie nämlich erklären mir sächsischer Genitiv und deutscher Englischunterricht, daß mein Backshop nicht sonntags, sondern sonntag's Brötchen verkauft? Und daß ich in der Metzer Straße im Einkauf's Shop freundlich bedient werde, in der Schönhauser Allee für eine Bockwurst nur 1'ne Mark zahle und in der Oranienburger Straße in Mitte unter Unmengen von neuen Bike's auswählen darf? Komme mir jetzt aber bitte niemand mit fehlender Bildung, es gibt auch Ärzte, die während des Umbau's ihre Praxis öffnen, und bei der Köpeniker Bank gibt es manchmal viermal mehr für's Geld. Es ist nicht fehlende Bildung, es ist fehlende Reform.

         Vielleicht lohnt sich nämlich die Debatte über die Rechtschreibreform nicht, solange der Deutschen liebstes Häkchen bei unserer Reform nur so halbherzig berücksichtigt wird. Immerhin haben wir es mit einer echten Volksbewegung zu tun, in Richtung der Häkchen. Solange die Magengrube noch jeden Schlag registriert, hat man die deutsche Rechtschreibung ganz sicher noch nicht genug reformiert. Schleunigst sollte man die Regeln an die deutsche Rechtschreibrealität anpassen, damit wir nicht weiter an den Normen vorbeibuchstabieren (und -apostrophieren), und um die Magenwände armer Berufsschreiberlinge zu schonen. Aber wäre auch das nicht eher nebensächlich? Man wundert sich doch eigentlich längst schon über nichts mehr. Über nichts? Ein nettes kleines Hairstudio in Neuköllns Urbanstraße weiß es besser: Lieber Einbrecher, einbrechen lohnt nicht, wir haben nicht's in der Kasse. Von nicht's kommt halt nicht's.

BahnDeutsche Ausdruckskraft

21. 11. 1999

Die Bahn war schuld, ich weiß es genau. In meinem Buchladen gibt es jetzt eine LeseEcke, und das geht zweifelsfrei auf das Konto der Bundesbahn. Denn neben Hochdeutsch, Plattdeutsch, Neudeutsch und Dummdeutsch gibt es auch BahnDeutsch. Ganz innovativ geht die Deutsche Bahn vor, kreativ möchte man fast sagen. Ganz listig arbeitete sie sich langsam voran, ganz ohne unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während alle über die Rechtschreibreform stritten, übersprang die Deutsche Bahn gekonnt, in ungekannter Geschwindigkeit und mit ihr niemals zugetrauter Zuverlässigkeit, alle Barrieren.

            Angefangen hat es mit der BahnCard, von vielen bei ihrer Einführung als Verunglimpfung der deutschen Sprache verdammt. Damals sah man dann überall an den Fahrkartenautomaten diese kleinen gelben Aufkleber, ?Rettet die deutsche Sprache, vermeidet englische Wörter". Aber Polemik verursachte weniger das vermeintlich englische Card, Stein des Anstoßes war vor allem die Großschreibung im Wortinneren. Die BahnCard, hieß es dann, sei von der Deutschen Bahn sicherlich so genannt worden, damit die armen Zugreisenden sie nicht mit der Bahnfahrkarte verwechselten. Sollte das tatsächlich der Grund dieser unmotivierten Majuskel sein, dann hat sie längst keine Daseinsberechtigung mehr: Fahrkarten heißen heute Tickets.

            Ein BahnTours FerienTicket hatte die Bahn dann irgendwann im Angebot, und das TramperTicket, Nostalgie-Ticket, warum nur mit Bindestrich, NostalgieTicket ist doch schon vom Schriftbild einfach bahnDeutscher. Tagestickets gibt es auch; sie sind zwar nur ohne Luxusmajuskel erhältlich, können dafür aber bei einer Dampf-Hotline vorbestellt werden; laut einer anderen Broschüre geht so eine telefonische Vorbestellung auch bei einer Dampfhotline. Genauere Informationen über den Zauber der Dampfnostalgie mit der Schwarzatalbahn entnehmen Sie bitte dem Dampf-Fahrplan. Das Rail&Fly-Ticket bekommen Sie wie alle anderen Tickets an Ihrer Fahrkartenausgabe. Wäre es nicht zeitgemäßer, von Ticketausgabe zu sprechen?

            Im BahnKurs erfahren Sie alles über Service-Leistungen, die zahlreichen Fahrplanveröffentlichungen, über Bike&Ride, den RegionalExpress, den StadtExpress, die RegionalBahn (nicht zu verwechseln mit Regionalwagen), Radtouren-Beschreibungen und Radverleihstationen, leider aber nichts über die Bindestrichregeln der bahnDeutschen Sprache, über Groß- und Kleinschreibung oder über die Kriterien der Getrennt- und Zusammenschreibung. Wann genau ist der Bindestrich denn nun zu setzen? Gibt es Regeln für den Ausfall des Bindestrichs (Bahn-Card wird zu BahnCard?) oder handelt es sich um unregelmäßige Majuskulisierung, die man einfach mitlernen muß?

            Stößt er dann auf den FUNTRAIN und das Event-Magazin, merkt der aufmerksame Zugreisende gleich, daß er manches besser nicht hinterfragt, sondern einfach auswendig lernt, dieses Prinzip kennt er ja glücklicherweise schon aus dem Fremdsprachenunterricht. Aber was ruft wohl die Majuskulisierung hervor? Könnte es kreative Innovation sein?

            Vielleicht kann man beim BestellCenter eine bahnDeutsche Grammatik erwerben. In so einer Grammatik wird sicher auch erläutert, warum es kontextbedingt zum s-Ausfall in bahnDeutschen Komposita kommt: Abfahrtpläne und Ankunftpläne, hier haben die Kreativmanager der Deutschen Bahn voll ins schwarze (oder auch ins Schwarze, noch lieber: insSchwarze) getroffen. Einen Zeitungkiosk konnte ich auf den Erlebnisbahnhöfen der DB leider nicht entdecken. Vielleicht erfährt man aus dieser Grammatik auch etwas über die semantische Ebene, die es bei Events, Sound und Powersound zu vermuten gibt. Alle diese tollen Bahn-Angebote dürfen wir nämlich genießen, wenn wir den FUNTRAIN besteigen (das ist die multimediale Servicewelt der DB). Servicewelt? Müßte das jetzt nicht Service-Welt sein oder erwische ich mich gerade bei falscher Analogiebildung? Das hieße ja immerhin, daß ich die Strukturen des BahnDeutschen zu verstehen beginne. Falsche Analogiebildung ist ja bekanntlich ein kreativer Fehler. Ein Fehler zwar, aber doch kreativ. Wie wäre es mit AnalogieBildung? Nein?

            Passend zu den neuartigen Leistungen der Deutschen Bahn gibt es übrigens auch einen Event-Planer, damit man den Überblick nicht verliert bei all diesen Events, die man mit dem TramperTicket erreichen kann. Leider nicht mit dem InterCityNight ComfortSchlafwagen. SoEinPechAberAuch.

 

Start | Curriculum vitae | El castellano de Cataluña
Lehrveranstaltungen | Nutzungsbedingungen

Prof. Dr. Carsten Sinner
Universität Leipzig
Institut für Angewandte Linguistik und Translatologie
Iberoromanische Sprach- und Übersetzungswissenschaft
Beethovenstr. 15
04107 Leipzig
Tel. 0049-341-9737602

http://www.carstensinner.de e-mail